Gedanken zu Marcus Aurelius’ Selbstbetrachtungen
Marcus Aurelius war Kaiser Roms von 161 A.D. bis 180 A.D. Er war ein hochgebildeter Mann und regierte während einer relativ friedvollen Zeit, dennoch verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens im Feldlager, wo er am 17.März 180 im heutigen Serbien verstarb. Sein postmortaler Ruhm begründet sich vor allem in seinen überlieferten Schriften. Er verfasste 12 Bücher, die im Deutschen meist unter dem Titel Meditationen oder Selbstbetrachtungen veröffentlich werden, in welchen er seine, aus der Stoa hervorgehende, Lebensphilosophie und Denkweise darlegt. Obwohl seit seinem Tod mehr als achtzehn Jahrhunderte vergangen sind, erfreut sich das Werk weiterhin großer Beliebtheit und wird auch in der heutigen Zeit rege diskutiert. Die zwölf Bücher bestehen aus durchnummerierten Gedanken, die in der Länge von einigen Worten bis zu mehren Seiten reichen. Das Niedergeschriebene ist sehr intim – Aurelius schreckt nicht vor brutalen Gedanken mit erbarmungslosen Folgerungen zurück. In diesem Essay stelle ich die für mich persönlich eindrucksvollsten Passagen vor und schreibe meine Gedanken dazu nieder.
1.12 Von Alexander, dem Platoniker lernte ich, niemals ohne Not jemanden mündlich oder schriftlich zu erklären, ich hätte keine Zeit, und nicht auf diese Weise unter dem Vorwand dringender Geschäfte die Pflichten beständig zurückzuweisen, die uns das Zusammenleben mit den Mitmenschen auferlegt.
2.7 Was zerstreuen dich die Außendinge? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen, und laß dich nicht weiter wie ein Wind umhertreiben! Auch vor jener anderen Verwirrung hüte dich: den es gibt auch Toren, die sich ihr ganzes Leben lang abmühen, aber kein Ziel vor Augen haben, auf das sie alle ihre Wünsche und Gedanken richten.
Oh, was für ein Tor ich doch oft war und immer noch bin. Es ist einfach, geschäftig zu sein, aber wahre Produktivität ist sehr schwer. Es ist einfach, stupide Aufgaben zu erledigen ohne über das warum und wie nachzudenken. Es ist einfach, Stunden zu zählen und schwer Fortschritt zu messen.
3.1 Man muß nicht nur das bedenken, daß unser Leben sich tagtäglich aufzehrt, und mit jedem Tag der Rest kleiner wird, sondern auch jenes, daß selbst, wenn jemand länger leben sollte, es doch ungewiß ist, ob auch jene Betrachtung, die die Einsicht in göttliche und menschliche Dinge bezweckt. Denn wenn man einmal beginnt, kindlich zu werden, so hört zwar das Vermögen zu atmen, zu verdauen, Vorstellungen und Triebe zu haben alles andere derart nicht auf; die Fähigkeit aber, seine Kräfte selbsttätig zu brauchen, seine jeweilige Pflicht zu berechnen, die Eindrücke zu zergliedern, sich darüber klar zu werden, ob es Zeit ist, bereits jetzt aus dem Leben zu scheiden und über andere derartige eine geübte Denkkraft erfordernde Dinge, diese Fähigkeit ist in uns erloschen. Darum müssen wir eilen, denn wir nähern uns nicht nur mit jedem Augenblock dem Tode, sondern die Fassungskraft und die Fähigkeit zu denken hören oft schon früher auf.
Es ist traurig, dass wir noch kein Mittel gefunden haben, die kognitiven Folgen des Alterungsprozesses zu stoppen. Aurelius sagt, dass die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, nachlässt. Ich mache mir oft Gedanken, wie es möglich sein kann, den Niedergang zumindest zu verlangsamen. Dieser Blog dient auch dazu, Gedanken und Ziele jetzt ausformuliert niederzuschreiben, damit ich mir diese nicht von neu auf herleiten muss, wenn es meine geistigen Fähigkeiten vielleicht nicht mehr zulassen.
4.11 Fasse die Dinge nicht so auf, wie sie dein Beleidiger beurteilt, noch, wie er will, daß du sie sie beurteilst; sondern betrachte sie so, wie sie der Wahrheit sind.
Woher aber soll ich wissen, wo meine Beurteilung von der Wahrheit abweicht? Es ist schwer, sich selbst objektiv zu sehen, man rückt sich selbst doch immer ins rechte Licht. Auf der anderen Seite, ist es auch einfach sich selbst zu kritisch zu betrachten und wie eine Fahne von den Meinungen anderer herumgewirbelt zu werden.
4.17 Lebe nicht, wie wenn du Tausende von Jahren zu leben hättest. Der Tod schwebt über dir! Solange du noch lebst, solange es noch Tag, sei gut!
Zu oft verschiebe ich gute Taten auf morgen, gibt es nicht immer Wichtigeres zu tun? Aber die Zeit ist vergebungslos.
4.18 Wieviel Muße gewinnt der, der nicht auf seines Nächsten Reden, Tun oder Denken sieht, sondern sich nur darum kümmert, ob seine eigenen Handlungen gerecht, fromm und gut sind; sieh als nicht die schwarzen Laster der Umgebung, sondern wandle auf eigener Bahn deinen Lauf unbeirrt.
4.49 Gleiche dem Fels, an dem sich beständig die Wogen brechen – er bleibt unerschüttert, und zu seinen Füßen schlafen die wilden Wasser ein. „Wie bin ich unglücklich, daß ich das erleben mußte!“ Nicht doch, sondern: „Wie bin ich glücklich, daß ich trotz dieses Schlages kummerlos bleibe, nicht von der Gegenwart gebeugt, nicht von der Zukunft geängstigt!“ Konnte doch derselbe Schlag jeden andern treffen; aber nicht jeder andere wäre dabei kummerlos geblieben. Warum soll nun jenes eher ein Unglück als dies ein Glück sein? Ist denn überhaupt das für den Menschen ein Unglück, was mit der Menschennatur nicht im Widerspruch steht? Oder scheint dir etwas der Menschennatur zu widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was ist aber dieser Wille? Du kennst ihn. Hindert dich nun aber dein Geschick, gerecht, hochherzig, besonnen, verständig, vorurteilslos, ohne Falsch, bescheiden, freimütig zu sein und alle anderen der Menschennatur wirklich eigenen Tugenden zu entfalten? Bei allem also, was dich traurig machen könnte, suche bei dieser Wahrheit Zuflucht: Dies ist kein Unglück, es edel zu tragen aber ein Glück.
Fast wie ein Resümee der Stoa erscheint dieser Abschnitt.
5.1 Des Morgens, wenn du unwillig aufstehst, denke, ich erwache, um als Mensch zu wirken! Sol ich verdrießlich sein, wenn ich hingehe, dass zu tun, weshalb ich geworden bin und wozu ich in die Welt gesandt bin? Oder bin ich etwa dazu geboren, um auf meinem Lager liegend mich zu pflegen? „Aber das ist so süß!“ Also bist du zum Genuß geboren und gar nicht zur Tätigkeit? Siehst du denn nicht die Pflanzen, die Sperlinge, die Ameisen, die Spinnen und die Bienen? Alle verrichten sie ihr Geschäft und dienen jedes in seiner Art der Weltharmonie! Und du willst nicht tun, was dir als Mensch obliegt und eilst nicht hin, deine Bestimmung zu erfüllen? „Aber man muß doch auch ausruhen!“ Gewiß! Aber auch dafür hat die Natur eine bestimmte Grenze gesetzt, wie auch im Essen und Trinken. Du aber überschreitest diese Grenze und willst über das Bedürfnis hinausgehen! In den Äußerungen deiner Tätigkeit allerdings nicht; hier bleibst du im Gegenteil hinter dem Möglichen zurück. Liebe dich selbst tiefer, dann wirst du auch deinen Natur und was sie verlangt, tiefer lieben! Mühen sich doch ab schon alle, die nur ein ärmliches Handwerk lieben, sie vergessen das Bad und fragen nicht nach der Mahlzeit! Und du solltest diene Natur weniger achten als der Erzgießer seine Formen, der Tänzer seine Sprünge, der Geizhalz sein Geld, der Rumsüchtige sein bißchen Ruhm? Auch diese lassen, ihrer Leidenschaft zuliebe, eher vom Schlaf und von der Nahrung als von der Vermehrung dessen, was ihnen so lockend schein: Und du solltest Handlungen für die Allgemeinheit geringer achten und weniger der Anstrengung wert?
Hat noch jemand öfters Probleme damit, morgens aus dem Bett zu kommen? Dieser Abschnitt hilft bestimmt beim Aufwachen.
5.2 Wie leicht ist es, jede verwirrende oder unpassende Vorstellung von sich abzuwehren und fortzuweisen und sofort wieder das seelische Gleichgewicht zu erreichen.
Diesen Aphorismus verstehe ich nicht. Es klingt wie eine Anpreisung von Ignoranz. Vielleicht interpretiere ich Aurelius‘ „verwirrende oder unpassende Vorstellung“ falsch, meint er damit möglicherweise negative Gedanken?
5.6 Mancher, der einem andern Dienste erwiesen hat, ist sogleich bei der Hand, sie ihm in Rechnung zu stellen; ein anderer ist zwar dazu nicht ohne weiteres bereit, sieht aber sonst in jenem seinen Schuldner und merkt sich genau, was er geleistet hat. Ein dritter aber weiß sozusagen nicht einmal, was er geleistet hat; er gleicht dem Weinstock, der Trauben trägt und weiter nichts will, wenn er einmal eine Frucht getragen hat. Wie ein rennendes Pferd, ein Hund auf der Jagd und eine Biene, die Honig bereitet: So sei der Mensch, der Gutes erwiesen: Er posaunt nicht aus, was er getan, sondern schreitet weiter zu anderem Wohltun, dem Weinstock gleich, der neu sich berankt, um zu seiner Zeit wieder Trauben zu tragen. Man muß also zu denen gehören, die dergleichen ohne Überlegung tun? Gewiß. Aber, man muß doch wissen, was man tut? Denn einem geselligen Wesen ist es doch es heißt, eigentümlich zu wissen, daß es für das Ganze wirke und, bei Gott, auch zu wollen, daß sein Mitmensch das merke! Zugegeben! Doch verstehst du mich nicht recht und wirst darum zu denen gehören, derer ich vorhin gedacht habe; denn sie lassen sich dadurch eine Scheinwahrheit irreleiten; wenn du aber den wahren Sinn des Gesagten erfassen willst, so fürchte nicht, darüber eine gemeinnützige Tat zu unterlassen.
Man darf eine gute nicht nur tun, um selbst davon zu profitieren, allerdings darf man ruhig dabei gesehen werden.
6.20 Wenn uns auf dem Turnplatz zufällig jemand mit einem Nagel ritzt oder durch einen Stoß am Kopf eine Beule beibringt, so werden wir deshalb nicht zornig oder ärgerlich noch für die Zukunft argwöhnisch gegen ihn, als trachte er uns nach dem Leben; aber wir hüten uns vor ihm, nicht als ob es ein Feind oder ein verdächtiger Mensch wäre, sondern wir gehen ihm nur gelassen aus dem Weg. Gerade so muß man es auch in den übrigen Verhältnissen des Lebens machen und es über vieles bei denen hinwegsehen, die auf dem Spielplatz des Lebens unsere Genossen sind. Denn wie gesagt, es ist ganz gut möglich, ohne Argwohn und Groll gewissen Leuten aus dem Wege zu gehen.
Das ist ein Sache mit der ich mich oftmals schwer tue. Es ist gut, Menschen eine zweite Chance zu geben, aber muss es wirklich eine dritte und vierte sein? Auch wenn es weh tut, muss man akzeptieren, dass man mit manchen Menschen besser keinen Kontakt hat.
6.21 Wenn mich jemand überzeugen kann, daß ich nicht richtig urteile oder handle, so will ich’s mit Freuden anders machen, denn ich bin ein Wahrheitssuchender, und von der Wahrheit hat noch nie jemand Schaden gelitten. Schaden leidet aber, wer auf seinem Irrtum und auf seiner Unwissenheit beharrt.
Die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, wenn man mit neuen Argumenten konfrontiert wird, begeistert mich, insbesondere dann, wenn die Meinungsänderung auch von einer Verhaltensänderung begleitet wird. Ich habe manchmal das Gefühl desto länger man seiner Lebensweise nachgeht, desto schwerer ist es, diese zu ändern. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, kognitive „Flexibilität“ und Unvoreingenommenheit zu trainieren?
6.58 Wer sind denn die, denen man gefallen möchte, und um welcher Vorteile willen und durch welcherlei Mittel? Wie schnell die Zeit alles verschlingen, und wie vieles hat sie schon verschlungen!
Es ist doch eindrucksvoll, wie Worte, welche vor so langer Zeit geschrieben wurden, ihre Bedeutung nicht verlieren.
7.15 Was auch einer tun oder sagen mag, ich muß jedenfalls rechtsschaffen sein. So könnte auch das Gold oder der Smaragd stets sagen: was auch einer tun oder sagen mag, ich muß ein Smaragd sein und meine Farben behalten.
Aurelius wiederholt dieses Dogma unentwegt in den Selbstbetrachtungen. Tatsächlich tut es gut in der heutigen vom Individualismus durchzogenen Welt sich ein klares Dogma zu geben, wonach man lebt und sich selber misst. Dies könnte ein solches sein.
7.26 Hat jemand in etwas gegen dich gefehlt, so erwäge sogleich, welche Ansicht über Gut und Böse ihn zu diesem Vergehen bestimmt habe. Denn sobald dir dies klar ist, wirst du ihn nur bemitleiden, dich aber weder verwundern noch erzürnen; denn entweder hast du über Gut und Böse dieselbe Ansicht wie er, oder doch eine ähnliche, dann mußt du verzeihen; oder du hast über Gut und Böse nicht dieselben Ansichten wie er, in diesem Fall wird dir das Wohlwollen gegen den Irrenden um so leichter sein.
7.45 „Ja, ihr Männer von Athen, so verhält es sich in der Tat. Den Posten, auf welchen einer, in der Meinung, daß es der beste sei, sich selbst gestellt hat oder von seinem Feldherrn gestellt worden ist, muß er, dünkt mich, auch in Gefahr behaupten und dabei alles, selbst den Tod verachten, nur die Schande nicht.“
Der Gedanke, Tod vor Schande zu stellen, wird an dieser Stelle erstmals von Aurelius geäußert. Es ist bezeichnet, dass er selbst in einem Feldlager starb.
7.67 Die Natur hat dich nicht in dem Grade mit der Körpermasse zusammengeschweißt, daß du dich nicht auf dich selbst beschränken und eine Pflicht mit ungehinderter Freiheit tun könntest. Denn man kann recht wohl ein göttlicher Mensch sein, ohne von jemanden dafür erkannt zu werden. Daran denke immer und vergiß auch nie, daß zur Glückseligkeit nur sehr wenig nötig ist; und wen du auch die Hoffnung aufgeben mußtest, es in Dialektik und Naturphilosophie weit zu bringen, so darfst du doch nicht darauf verzichten, ein freigesinnter, bescheidener, geselliger und der Gottheit ergebener Mensch zu werden.
Mit der eigenen Mittelmäßigkeit zurecht zu kommen, ist für mich ein zentraler Bestandteil des Erwachsenwerdens. Was Arelius Dialektik und Naturphilosophie nannte, ist heute Karriere und Erfolg. Es wird einem nicht immer leicht gemacht, zu lernen sich mit wenig zufrieden zu geben, dennoch ist dies vielleicht der einfachste Weg zu einem bescheidenen Glück.
8.5 Vor allem laß dich nicht beunruhigen! Alles steht ja im Einklang mit der Allnatur; eine kurze Spanne Zeit – und du bist nirgends mehr, so wenig wie Hadrian und Augustus. Sodann fasse deine Lebensaufgabe unterwandten Blicks ins Auge und bedenke, daß du ein guter Mensch sein sollst, und tue unentwegt, was die Natur des Menschen von dir fordert, und rede nur, was dir durchaus gerecht scheint,; sei bescheiden, ruhig und ohne Heuchelei!
Der Begriff Allnatur taucht oft in den Selbstbetrachtungen auf. Der Kaiser sah alle Lebewesen als Teil einer universellen Natur, an deren Regeln jeder gebunden ist und mit der man in Harmonie Leben muss. Wie genau man jedoch anstellt, ist für den heutigen Leser nicht immer leicht aus den Aufzeichnungen ersichtbar. In dem obigen Zitat werden die Prinzipien hingegen deutlich: Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit
8.9 Niemand soll von dir eine Beschwerde über das Hofleben oder über dein eigenes Leben hören.
Hiermit habe ich ein wenig gerungen. Ist es nicht normal, sich über Ungerechtigkeiten aufzuregen und ist nicht die Einsicht, dass ein Missstand vorliegt, der erste Schritt, um diesen zu beheben? Nach Lektüre von gewissen Blogs interpretiere ich die Stelle nun so, dass Aurelius Dinge außerhalb der eigenen Kontrolle meint. Warum also sich über etwas aufregen, an dem man doch nichts ändern kann? Kann man jedoch etwas ändern, sollte man sich nicht mit Beschweren, sondern versuchen, die Umstände zum Besseren zu bewegen.
9.7 Unterdrücke die bloße Einbildung, hemme die Leidenschaft; dämpfe die Begierde, erhalten die leitende Vernunft bei der Herrschaft über sich selbst
Ich muss gestehen, dass ich sehr oft in Tagträumen versinke. Aurelius würde das wohl als Laster sehen und es stimmt bestimmt, dass die Produktivität manchmal darunter leidet.
10.16 Es kommt gar nicht darauf an, dich immer über die notwendigen Eigenschaften eines guten Mannes zu unterhalten – man muss vielmehr ein solcher sein!
Taten vor Worte ist eines der zentralen Punkte, die ich aus den Selbstbetrachtungen mitnehme. Sind Taten doch das Einzige, das bleibt.