Gedanken zu Siddhartha

Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein.

I

Dieses Zitat von Rainer Maria Rilke könnte so auch in Hermann Hesse’s Meisterwerk Siddhartha auftauchen. Die Geschichte spielt zu unbekannter Zeit in Indien und handelt vom Leben des titelgebenden Brahmanen Siddhartha. Geboren in ein wohlhabendes Elternhaus, zieht es den aufgeweckten Jungen früh in die Welt hinaus, er will sich von Allem und Allen lossagen.

Ein Ziel stand vor Siddhartha, ein einziges: leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer vom Traum, leer von Freude und Leid. Von sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden, im entselbsteten Denken dem Wunder offenzustehen, das war sein Ziel. Wenn alles Ich überwunden und gestorben war, wenn jede Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann mußte das Letzte erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich ist, das große Geheimnis.

Auf der Suche nach dem Nichts kommt Siddhartha, begleitet von seinem Freund Govinda, zu den Samanas, einer Gruppe von pilgernden Asketen. Von Beginn tut er sich dort als außerordentlich begabt hervor, einer Zukunft als großer Gelehrter steht nichts im Wege. Allerdings zweifelt er schon bald an dem eingeschlagenen Weg, fühlt er sich doch dem Ziel nicht näherkommend.

Antwortete Siddhartha: „Wie alt wohl, meinst du, ist unser ältester Samana, unser ehrwürdiger Lehrer?“

Sprach Govinda: „Vielleicht sechzig Jahre mag unser Ältester zählen.“

Und Siddhartha: „Sechzig Jahre ist er alt geworden und hat Nirwana nicht erreicht. Er wird siebzig werden und achtzig, und du und ich, wir werden ebenso alt werden und werden uns üben, und werden fasten, und werden meditieren. Aber Nirwana werden wir nicht erreichen, er nicht, wir nicht. O Govinda, ich glaube, von allen Samanas, die es gibt, wird vielleicht nicht einer, nicht einer Nirwana erreichen. Wir finden Tröstungen, wir finden Betäubungen, wir lernen Kunstfertigkeiten, mit denen wir uns täuschen. Das Wesentliche aber, den Weg der Wege, finden wir nicht.“

Govinda zurücklassend, verlässt der Protagonist die Samanas und macht sich direkt daran sich selbst neu zu erfinden.

Denn plötzlich war auch dies ihm klargeworden: Er, der in der Tat wie ein Erwachter oder Neugeborener war, er mußte sein Leben neu und völlig von vorn beginnen. Als er an diesem selben Morgen den Hain Jetavana, den Hain jenes Erhabenen, verlassen hatte, schon erwachend, schon auf dem Wege zu sich selbst, da war es seine Absicht gewesen und war ihm natürlich und selbstverständlich erschienen, daß er, nach den Jahren seines Asketentums, in seine Heimat und zu seinem Vater zurückkehre . Jetzt aber, erst in diesem Augenblick, da er stehenblieb, als läge eine Schlange auf seinem Wege, erwachte er auch zu dieser Einsicht: „Ich bin ja nicht mehr, der ich war, ich bin nicht mehr Asket, ich bin nicht mehr Priester, ich bin nicht mehr Brahmane. Was denn soll ich zu Hause und bei meinem Vater tun? Studieren? Opfern? Die Versenkung pflegen? Dies alles ist ja vorüber, dies alles liegt nicht mehr an meinem Wege.“

Siddhartha trifft Kamala, eine schöne und kluge Frau, die ihm rät, eine Anstellung anzunehmen und sich zu ertüchtigen. Daraufhin beginnt Siddhartha für einen Kaufmann zu arbeiten und fällt anfangs nicht unbedingt durch sein wirtschaftliches Geschick allerdings durch seinen Stoizismus auf.

Siddhartha aber kümmerte sich wenig darum. Traf ihn Gewinn, so nahm er ihn gleichgültig hin; traf ihn Verlust, so lachte er und sagte: „Ei sieh, dies ist also schlechtgegangen!“

Diese Einstellung ändert sich jedoch bald. Sein Geisteszustand nähert sich dem der Kindermenschen, eine Bezeichnung für das gemeine Volk, an. Er beginnt sich teuer zu kleiden, gutes Essen zu genießen, um Geld zu spielen und gerät in Rage, wenn er einmal verliert. Vergessen scheint die Zeit als er in Lumpen gehüllt umherzog und ihm das Verlangen nach weltlichen Gütern fremd war.

Wie ein Schleier, wie ein dünner Nebel senkte sich Müdigkeit über Siddhartha, langsam, jeden Tag ein wenig dichter, jeden Monat ein wenig trüber, jedes Jahr ein wenig schwerer. Wie ein neues Kleid mit der Zeit alt wird, mit der Zeit seine schöne Farbe verliert, Flecken bekommt, Falten bekommt, an den Säumen abgestoßen wird und hier und dort blöde, fädige Stellen zu zeigen beginnt, so war Siddharthas neues Leben, das er nach seiner Trennung von Govinda begonnen hatte, alt geworden, so verlor es mit den hinrinnenden Jahren Farbe und Glanz, so sammelten sich Falten und Flecken auf ihm, und im Grunde verborgen, hier und dort schon häßlich hervorblikkend, wartete Enttäuschung und Ekel. Siddhartha merkte es nicht. Er merkte nur, daß jene helle und sichere Stimme seines Innern, die einst in ihm erwacht war und ihn in seinen glänzenden Zeiten je und je geleitet hatte, schweigsam geworden war.

Wie aus einem Traum erwacht Siddhartha aus diesem Leben und erschrickt als er bemerkt, wie sehr er sich verändert hat. Ein weiteres Mal läuft er davon, über Wald und Wiesen, bis er schließlich auf einen Fährmann trifft, ein älterer, weiser Mann, dem er bereits in der Vergangenheit begegnet ist. Diesem schließt er sich sogleich an und lässt sich von ihm sein Handwerk beibringen. Wie in seiner Zeit als Samara lebt er nun in der kleinen Hütte, fast nichts besitzend und so ziehen die Jahre ins Land. Schließlich tritt sein Sohn, von dessen Existenz er bisher nichts wusste, in Siddharthas Leben und wird direkt von diesem aufgenommen. Auch wenn der Vater seinem Sprössling alles durchgehen lässt und ihm stets mit Liebe begegnet zeigt der begütert aufgewachsene Junge sich unzufrieden und läuft davon. Siddhartha will ihm nachgehen, doch sein Freund, der Fährmann, hält ihn davon ab.

Hell strahlte des Fährmanns Lächeln auf; er berührte zart Siddharthas Arm und sagte: „Frag den Fluß darüber, Freund! Höre ihn darüber lachen! Glaubst du denn wirklich, daß du deine Torheiten begangen habest, um sie dem Sohn zu ersparen? Und kannst du denn deinen Sohn vor Sansara schützen? Wie denn? Durch Lehre, durch Gebet, durch Ermahnung? Lieber, hast du jene Geschichte denn ganz vergessen, jene lehrreiche Geschichte vom Brahmanensohn Siddhartha, die du mir einst hier an dieser Stelle erzählt hast? Wer hat den Samana Siddhartha vor Sansara bewahrt, vor Sünde, vor Habsucht, vor Torheit? Hat seines Vaters Frömmigkeit, seiner Lehrer Ermahnung, hat sein eigenes Wissen, sein eigenes Suchen ihn bewahren können? Welcher Vater, welcher Lehrer hat ihn davor schützen können, selbst das Leben zu leben, selbst sich mit dem Leben zu beschmutzen, selbst Schuld auf sich zu laden, selbst den bitteren Trank zu trinken, selber seinen Weg zu finden? Glaubst du denn, Lieber, dieser Weg bleibe irgend jemanden vielleicht erspart? Vielleicht deinem Söhnchen, weil du es liebst, weil du ihm gern Leid und Schmerz und Enttäuschung ersparen möchtest? Aber auch wenn du zehnmal für ihn stürbest, würdest du ihm nicht den kleinsten Teil seines Schicksals damit abnehmen können.“

Siddhartha ist zu einem alten Mann geworden, der Fährmann stirbt und von da an lebt er allein in der kleinen Hütte am Flussufer. Auch wenn er kaum Verkehr mit anderen Menschen pflegt ist er in der Umgebung doch als weiser Mann bekannt und so steht eines Tages sein alter Freund Govinda, selbst ein Greis, vor seiner Tür. Govinda, immer noch ein Samara, fragt Siddhartha was er denn in den Jahren gelernt habe.

„Ich scherze nicht. Ich sage, was ich gefunden habe. Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht. Dies war es, was ich schon als Jüngling manchmal ahnte, was mich von den Lehrern fortgetrieben hat.

II

Für mich besteht die These des Buches in der Vergänglichkeit der Offenbarungen, welche sich Siddhartha eröffnen. Wie oft habe ich mir selbst schon vorgenommen, mein Leben zu ändern, mich neu zu erfinden und frei von der Anziehungskraft materieller Dinge zu leben. Doch schon am nächsten Tag sorge ich mich wieder um quasi bedeutungslose Dinge und strebe nach Erfolg und Karriere. Es ist interessant, dass Siddharthas Leben ein ständiger Kreislauf ist zwischen Askese und Reichtum. Vielleicht möchte Hesse damit auch unser Leben wiederspiegeln. In der Jugend haben wir genug Zeit und Muße uns mit Philosophie und dergleichen zu beschäftigen, wenn das Arbeitsleben beginnen vergessen wir dies schnell wider und werden ganz vom Alltag eingenommen, im Alter schließlich kehren wir zu der Nachdenklichkeit der Jugend zurück. Lässt sich etwas tun um den das Hinundher zu vermeiden, um wie auch in stresserfüllten Zeiten eine geistige Distanz zum Weltlichen herzustellen? Für mich ist es das Lesen von Büchern wie Siddhartha, die mich innehalten und das Leben aus einer gelasseneren Perspektive betrachten lassen.